Seit ihrem Eintritt in die ETH Zürich hat Ursula Renold viele Länder bereist und ihr Bildungssystem analysiert, sei es, weil sie Vorträge hielt oder Workshops mit Vertretern anderer Länder leitete. Die Erkundungsreisen zeigen, dass nur wenige Länder ein derart ausdifferenziertes Bildungssystem haben wie die Schweiz. Ein auffälliger Unterschied ist die Höhere Berufsbildung (HBB), welche in der Schweiz eine Vielzahl von Bildungsabschlüssen für Fach- und Kaderleute bietet.
Dieses Systemelement mit formal anerkannten Abschlüssen fehlt ausserhalb der deutschsprachigen Länder fast immer. Alleinstellungsmerkmale sind die hohe Praxisorientierung sowie die Zielgruppe der Studierenden. Schweizer HBB-Studierenden sind im Durchschnitt wesentlich älter als 24 Jahre (obere Bandbreite der Jugendkohorte gemäss ILO). Es geht also meistens um den karrieremässigen Auf- oder Umstieg, der auf fundierter beruflicher Grundbildung und meist mehreren Jahren Berufspraxis gründet. Die meisten Länder haben keine eng mit der Praxis verbundenen formalen Tertiärabschlüsse, die das re- oder weiterqualifizieren im Laufe der Erwerbskarriere ermöglichen. Sie verfügen einzig über Hochschulabschlüsse und diese führen zum Ersteinstieg ins Erwerbsleben. Zudem haben sie meist wenig bis keine Berufserfahrung. Der berufliche Einstieg gelingt dank (oft unbezahlten) Praktika, d.h. durch Einarbeitung und betriebliche Sozialisation in die neue Funktion. Für den beruflichen Aufstieg absolvieren sie Weiterbildungskurse, sogenannte non-formale Bildung, die staatlich nicht anerkannt sind und deren Wert von HR-Verantwortlichen mangels fehlenden einheitlichen Qualifikationsstandards schwer einzuschätzen sind. Wichtige Signalwirkung bei Bewerbungen haben deshalb formal anerkannte Hochschulabschlüsse «Bachelor» und/oder «Master». Diese Abschlüsse haben sich in vielen Ländern ohne ausgeprägtes Höheres Berufsbildungswesen als sogenannte «Minimal Anforderung» für mehr oder weniger anspruchsvolle Funktionen etabliert. Weil HBB-Programme fehlen, bilden sie auf Hochschulstufe eine breite Palette von Leuten aus, von denen nicht
alle als «akademisch gebildet» bezeichnet werden können. Dieser globale «Minimalstandard» führt auch in der Schweiz hie und da zum Ruf nach mehr Hochschulabschlüssen. Aber haben Hochschulabsolvierende gegenüber HBB-Absolventen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt? Sind sie beispielsweise besser vor allfälliger Arbeitslosigkeit geschützt? Zumindest für die Schweiz können deskriptive Analysen einen Hinweis geben, dass dies nicht zutrifft.
Abbildung 1:
Arbeitslosenquote nach dem höchsten Bildungsabschluss der Betroffenen Abbildung 1 zeigt, dass Personen mit einem Höheren Berufsbildungsabschluss die tiefste Wahrscheinlichkeit haben, einmal im Leben arbeitslos zu sein. Mögliche – bisher unerforschte – Gründe liegen in ihrer ausgewiesenen Berufserfahrung. Sie verfügen über Expertise und Kompetenzen, welche am Arbeitsmarkt nachgefragt werden. Weiter deuten auch die sogenannten überdauernden «Softskills» auf die hohe Arbeitsmarktfähigkeit hin. Sie haben in den letzten Jahren relativ zu Fachkompetenzen extrem stark an Bedeutung gewonnen (siehe Bolli/Renold, 2015). Die Auswertungen* der Evaluation des Rahmenlehrplans der Höheren Fachschulen für Wirtschaft zeigen, dass das Lernen am Arbeitsplatz in Kombination mit formaler Ausbildung ein wirksamer Weg ist, um sich auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes von morgen vorzubereiten. Das kann ein Hinweis dafür sein, warum Hochschulabsolventen heute ohne Praktika kaum mehr eine unbefristete Stelle antreten können, denn «Softskills» und Berufserfahrung sind für den Berufseinstieg wichtiger geworden.
*Referenzen und weitere Informationen sind auf www.odec.ch
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Quelle: ODEC Schweizerischer Verband der dipl. HF